Melodie der Hoffnung

LeseprobeN

Ausschnitt aus Kapitel 2: Schatten

Sie wanderte durch den Wald. Irrlichter wiesen ihr den Weg, führten sie immer tiefer auf verschlungenen Pfaden. Wohin war sie unterwegs?

„Das weißt du doch“, sagte eine Stimme neben ihr. „Die Zeit des Davonlaufens ist vorbei.“

Trotz der Sanftheit der Stimme erschrak sie und wich ein Stück zur Seite. Ein Baum versperrte ihr den Weg. Unwillkürlich stolperte sie nach vorne.

Der Mann neben ihr lächelte und setzte seinen Weg fort. „Wovor hast du denn Angst? Wir haben so viel zusammen erlebt. Ich weiß alles über dich. Und du über mich. Du tust so, als seist du zu einem Fremden unterwegs.“

Sie stoppte. Er lief noch ein paar Schritte weiter, dann blieb auch er stehen und drehte sich langsam zu ihr um.

„Alles?“, fragte sie spöttisch. „Du kennst mich nicht. Sonst hättest du mir all das nie angetan. Außer natürlich, du wolltest meinen Hass“, fügte sie mit einem grimmigen Lächeln hinzu.

Er antwortete nicht. Stumm beobachtete er sie aus funkelnden roten Augen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.

„Und auch ich habe dich nie wirklich gekannt“, fügte sie hinzu. „Sonst wäre ich nicht so dumm gewesen, dir zu vertrauen.“

„Du hast mich geliebt“, sagte er. „Du wolltest einst alles für mich aufgeben. Deine Familie, dein Heimatdorf. Das Leben, das du gekannt hast. Ist nicht genau das geschehen?“

Sie entblößte die Zähne. „Versuche ja nicht, das alles zu verdrehen. Ja, ich war dumm genug, alles für dich aufgeben zu wollen. Weil ich dachte, dass ich dich kenne. Weil ich dachte, du seist es wert. Aber das bist du nicht. Und ich werde es dir beweisen.“

Er hob eine Hand. Etwas Silbernes glitzerte darin. „Damit?“, fragte er.

„Der Dolch! Gib ihn mir zurück!“

Er lachte leise, und mit einem Mal schien er in die Höhe zu wachsen. „Denkst du denn, du seist klüger als damals? Glaubst du wirklich, es sei so einfach? Stell dich endlich deinem Scheitern. Ich bin stärker als du. Was du auch versuchst, ich werde gewinnen. Und weißt du auch, warum?“

Er trat an sie heran, so nahe, dass ihre Gesichter kaum eine Handbreit voneinander entfernt waren. „Weil ich dich kenne. Leugne es ruhig, aber ich kenne dich. Ich weiß, was du denkst, wie du denkst. Ich weiß, wer du bist. Und dieses Wissen hast du mir gegeben. Freiwillig.“

Ausschnitt aus Kapitel 8: Frieden

Taram stand barfuß im Gras, die Augen geschlossen und die Handflächen vor sich aneinandergepresst. Seine Haltung war locker, aber aufrecht, sein Gesicht konzentriert.

„Atme tief durch. Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Forme das Bild in deinen Gedanken, ganz langsam und sorgfältig. Und wenn du glaubst, es erfasst zu haben, lass es nach und nach in die Wirklichkeit gleiten.“

„Aber es ist so … groß“, meinte Taram und hob die Brauen, ohne dabei die Augen zu öffnen. Feine Schweißperlen lagen auf seiner Stirn.

Nuriël schritt einmal um ihn herum und blieb dann vor ihm stehen. „Nur deshalb, weil du es an der Realität misst. In deinem Kopf existieren nur die Grenzen, die dein Verstand dir setzt. Und auch, wenn du dich oft genug verhältst, als hättest du deinen Verstand zuhause vergessen, hast du bisher doch immer wieder demonstrieren können, wozu du fähig bist. Also genug mit den Ausreden!“

Nur mit Mühe unterdrückte Taram ein Grinsen. Meister Nuriël war ein strenger Lehrer und beschwerte sich oft über die unbekümmerte, oftmals unfokussierte Weise, mit der Taram sein Training anging. Nach einer Weile hatte der Pacru jedoch verstanden, dass es einfach seine Art war. Und oft versteckte sich hinter mahnenden Worten eine ganz eigene Art von Humor. Natürlich wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, dem Meister von dieser Erkenntnis zu berichten.

„Denk daran“, riss ihn Nuriëls Stimme aus seinen Gedanken. „Du veränderst mit deiner Gabe nicht die Realität. Alles, was du tust, ist das Bild, das in deinem Kopf ist, nach außen zu tragen. Konzentriere dich. Visualisiere es. Und dann mache es sichtbar.“

Taram nahm einen tiefen Atemzug. Er hatte es nie übers Herz gebracht, dem Meister zu gestehen, dass er oft keinen blassen Schimmer von dem hatte, was er redete. Und trotzdem gelang es Nuriël immer wieder, ihm genau die Impulse zu geben, die er brauchte. Wahrscheinlich war es das, was ihn zu so einem guten Lehrer machte. Er redete so lange, bis irgendetwas Brauchbares für jeden dabei war.

Zumindest war das Tarams Theorie.

„Also gut.“ Er atmete noch einmal tief durch, dann öffnete er die Augen.

Die Erde erzitterte. Es fing ganz sanft an und wurde immer stärker, bis selbst Nuriël einen Schritt zur Seite machte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ein Grollen erklang, schwoll an und wurde immer lauter, und plötzlich brach die Erde vor Taram mit lautem Krachen auf. Flammen schossen empor, reckten sich gen Himmel und lösten sich dann in Rauch auf. Erdklumpen flogen durch die Luft, das Loch vor ihm wurde immer größer und tiefer.

Taram blinzelte. Von einer Sekunde zur nächsten war es vorbei. Die Wiese vor ihm war unberührt, die Luft klar und in der Ferne konnte man Vogelgezwitscher hören.

„Bemerkenswert“, murmelte Nuriël. „Einfach nur bemerkenswert.“ Der Naësaru räusperte sich und rückte seine Kleidung zurecht, dann warf er Taram einen tadelnden Blick zu. „Dennoch, es braucht noch einiges an Feinarbeit, besonders am Ende. Und waren die Flammen wirklich notwendig?“

Diesmal gelang es Taram nicht, sein Grinsen zurückzuhalten. „Ich wollte dem Ganzen noch ein bisschen Dramatik hinzufügen. Sah doch gut aus, oder nicht?“