Ouvertüre der Nacht
LeseprobeN
Ausschnitt aus Kapitel 1: Rot
Derim erhob sich. Unruhig schritt er ein paar Mal auf und ab.
Laryana schwieg eine Weile, um ihm Zeit zu geben, bevor sie erneut das Wort ergriff. „Ihr fragtet mich, ob ich euch helfen würde, Nisirta zu erreichen. Falls dies noch immer euer Wunsch ist …“
Derim hielt im Laufen inne und erhob eine Hand. Laryana verstummte. Das Gesicht von ihr abgewandt, starrte er in eine ferne Erinnerung, als er schließlich erwiderte: „Ich würde dir gerne glauben, was du erzählt hast. Es ist lange her, dass wir Hoffnung hatten, und ich gebe zu, deine Worte haben so etwas wie Hoffnung in mir geweckt. Aber ich habe meine Heimat verloren durch die Grausamkeit der Naësari. Ich habe meine Mutter verloren und weiß nicht einmal, ob mein Vater noch lebt. Ich habe die Schreie der Menschen in Darn gehört, die verstümmelten Körper derer gesehen, die es gewagt hatten, sich zu wehren. Ich …“
Saria biss sich auf die Lippe und griff nach Ayas Hand.
„Ich verstehe, was du meinst“, sagte Laryana. „Dieser Krieg hat die Menschen viel gekostet, wahrscheinlich mehr, als du ahnst. Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe, und ich hoffe für dich, du musst es niemals sehen. Ich kenne deinen Schmerz.“
Zorn flammte in Derim auf, als er herumfuhr. „Wie könntest du?“, schrie er. „Du bist eine Naësara! Du kannst nicht wissen, was wir ertragen mussten seit dem Tage unserer Geburt! Ihr habt uns alles geraubt, uns wie Tiere gejagt und getötet! Solange ich denken kann, habt ihr uns unterdrückt und offen gezeigt, wie wenig wir für euch sind, wie wertlos euch das Leben eines Menschen ist! Wie kannst du so arrogant sein zu behaupten, dass du mich verstehst?“
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“
Derim schreckte zurück. Mit einem Mal war sein Zorn wie verflogen, als Laryana sich nun aufrichtete und ihn mit entblößten Zähnen ansah. Ihre kalten Augen schienen zu brennen.
„Glaubst du, du hast alles Leid für dich gepachtet?“, zischte sie. „Du versinkst in Selbstmitleid und wirfst mir vor, ich könnte dein Leid nicht nachvollziehen? Glaubst du, du kennst mich? Du weißt überhaupt nichts über mich! Auch ich habe alles verloren! Ich wurde aus meinem alten Leben gerissen, ausgestoßen, gejagt! Ich musste erleben, wie der Mann, dem ich mein Leben anvertraute, mich gnadenlos verriet! Ich musste mit ansehen, wie mein eigener Vater sein Schwert gegen mich erhob, wie meine Eltern mich aus meiner Heimat fortjagten! Ich habe die letzten Jahre ständig auf der Flucht verbracht, gehasst von den Menschen und verfolgt von den Naësari! Erzähle mir nicht, ich wüsste nichts von deinem Leid!“
„Ich … Ich verstehe nicht“, stammelte Derim. „Warum sollten deine Eltern das tun?“
In einer zornigen Geste riss Laryana sich den Schal von ihrem Hals und neigte ihren Kopf leicht zur Seite. „Deswegen!“
Saria gab einen erschreckten Laut von sich, und Derim starrte auf die kleine Stelle an ihrem Hals. Dort, an der Seite, waren zwei dunkle Narben, die aussahen, als hätten sich zwei kleine Spitzen in ihren Hals gegraben.
Ausschnitt aus Kapitel 4: Täuschung
Laryana wanderte durch die stillen Gassen. Obwohl ihr die Kälte wenig ausmachte, fröstelte sie. Bilder ihres eigenen Heimatdorfes stiegen in ihr auf. Bilder eines Dorfes, in dem sie als Kind gespielt hatte, wo sie jeden Winkel kannte. Doch wenn sie sich nun an das Dorf zu erinnern versuchte, sah sie nur den verlassenen Ort, die leeren Häuser, Anzeichen eines hastigen Aufbruchs. Und ein Grab, das ihren Namen trug.
Ein kleines, buntes Objekt erregte ihre Aufmerksamkeit. Neugierig strich sie ein paar Blätter beiseite und zog einen Gegenstand aus Stoff aus dem Schmutz. Es war eine Lumpenpuppe. Jemand hatte sie hier fallengelassen und dann vergessen. Oder keine Möglichkeit gehabt zurückzukehren, um sie zu holen.
Beinahe liebevoll strich sie über das fleckige Gesicht der kleinen Puppe, und für einen Moment schimmerten ihre Augen. Wenigstens hatte sie eine glückliche Kindheit gehabt. Vielleicht war ihr mehr nicht vergönnt gewesen in dieser kriegszerrissenen Welt. Vielleicht hatte sie all das Glück, dass ihr in diesem Leben zustand, in diesen Jahren aufgebraucht. Die Unwissenheit eines Kindes erschien ihr mit einem Mal wie ein Segen.
Behutsam legte sie die Puppe zurück an den Platz, wo sie sie gefunden hatte, und setzte ihren Weg fort.
Schließlich fand sie, wonach sie gesucht hatte. Ein kleines, halb herabhängendes Schild verriet, dass sich hier einst die Schmiede eines Mannes mit dem Namen Harrim befunden hatte. Vorsichtig betrat sie das Gebäude.
Im Inneren war es düster, doch ihre Augen gewöhnten sich sofort an das dämmrige Licht. Es war eine recht kleine und einfache Schmiede. Aber sie würde ausreichen.
Behutsam ließ sie ihre Hand über den kalten Amboss streifen.
Sie sah …
… Ein kleines Mädchen hielt fröhlich lachend einen viel zu großen Hammer in beiden Händen. Sie schwankte ein wenig unter seinem Gewicht, doch das schien ihr nichts auszumachen.
Ein Mann kniete neben ihr, und Schweiß glänzte auf seiner Stirn. „Was machst du da, Lara?“, fragte er.
„Ich will ein Schmied werden, so wie du! Ich will, dass du stolz auf mich bist!“
Der Mann lächelte und ergriff sanft den großen Hammer, dann zog er sie fest an sich heran und küsste ihre Stirn. „Ich werde immer stolz auf dich sein, meine Kleine.“
Sie schüttelte den Kopf. Nein, das war ein anderes Leben. Sie wollte nicht mehr daran denken.
Ausschnitt aus Kapitel 17: Kämpfe
Tanas stieß mit voller Wucht gegen einen der Felsbrocken, welche die karge Ebene übersäten, und für einen winzigen Moment verschwamm die Sicht vor seinen Augen. Im letzten Augenblick hob er das Schwert, um einen Hieb abzuwehren, doch die Kraft des Aufpralles riss ihm seine Waffe aus den Händen.
Verzweifelt langte er nach dem Dolch an seinem Gürtel. Seine Finger griffen ins Leere.
Der Naësaru erhob erneut das Schwert. Ein triumphierendes Lächeln lag auf seinen Lippen. Tanas bemerkte Blut an seinen Mundwinkeln, und er war sicher, dass es nicht sein eigenes war.
Fieberhaft warf er einen Blick zur Seite und sah sein Schwert. Er streckte die Hand aus und bekam es zu fassen, doch er wusste, dass er zu langsam war.
Ein surrendes Geräusch ließ ihn aufschauen. Der Gesichtsausdruck des Naësaru hatte sich mit einem Mal gewandelt. Verwunderung lag darin, und sein Mund war schmerzvoll aufgerissen.
Verblüfft beobachtete Tanas, wie er vor seinen Augen zu Staub zerfiel.
Ein kleiner metallischer Gegenstand fiel zu Boden, prallte von dem steinigen Boden mit einem klingenden Geräusch ab und blieb vor seinen Füßen liegen.
Schwerfällig rappelte Tanas sich auf und griff nach dem Gegenstand. Es war ein fein gearbeiteter Wurfdolch.
„Bist du verletzt?“
Sein Blick schnellte nach vorne, und für einen Moment stieg Panik in ihm auf. Verwirrung nahm sofort ihren Platz ein.
Vor ihm stand eine junge Frau. Auf den ersten Blick sah sie aus wie ein Mädchen, kaum älter als achtzehn, doch sie hatte etwas an sich, etwas Lebenserfahrenes, das ihrem Alter nicht gerecht wurde. Sie trug eine leichte Lederrüstung und die Uniform von Nisirta. Um ihre Hüfte waren drei Gürtel geschlungen, von denen zwei voll mit Wurfdolchen besetzt waren. Ein Langdolch hing an ihrer Seite, und in ihrer rechten Hand trug sie ein Schwert, von dessen Spitze Blut tropfte.
Die linke Hand hatte sie ihm entgegengestreckt. „Lass mich dir aufhelfen.“
Sein Blick wanderte zu ihren Hals, um den ein dunkler, feiner Seidenschal geschlungen war. Zu ihrem kurzen schwarzen Haar, ihrem blassen, scharf geschnittenen Gesicht.
Zu ihren violett-leuchtenden Augen. Ein seltsames Gefühl durchzuckte ihn. Ungläubigkeit vermischt mit heißem Zorn.
„Wer bist du?“, fragte er grimmig, ihre Hand ignorierend.
Die Naësara lächelte humorlos, und ihre Augen blitzten, bevor Kälte darin aufflackerte.
„Ich dachte mir schon, dass du das sagen würdest“, erwiderte Laryana. Sie hob den Wurfdolch auf, der Tanas aus der Hand gefallen war, und schleuderte ihn in die Menge. Tanas sah einen der Naësari zu Boden gehen.
Laryana warf noch einen letzten Blick auf ihn. Härte lag darin. Dann wandte sie sich um und verschwand im Kampfgetümmel.
Tanas erhob sich. „Das ist unmöglich“, murmelte er. Er senkte die Brauen und ballte die Hände zu Fäusten. „Nein, das ist unmöglich!“